Auf Empathie-Entzug

„Wir müssen die Grenzen dichtmachen und dann die grausamen Bilder aushalten“, sagte AfD-Parteifunktionär Alexander Gauland in der vergangenen Woche der „Zeit“. Und weiter: „Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen.“

Gauland ist kein unerfahrener Wirrkopf, hochgespült von der Pegida-Welle und versehen mit dem üblichen Verfallsdatum rechtspopulistischer Desperados. Der Sohn eines sächsischen Polizeioffiziers ist langjähriger Politprofi mit Stationen im Frankfurter Römer, der hessischen Staatskanzlei und dem Bundesumweltministerium.
Nach vierzig Jahren Mitgliedschaft in der CDU gründete er zusammen mit Bernd Lucke die AfD – bzw. deren Vorgängerin „Wahlalternative 2013“.
Kommt Lucke in dieser Geschichte die Rolle des tragischen Zauberlehrlings zu, verkörpert Gauland zweifelsohne den knochentrockenen Besen, der unbeirrbar sein Werk verrichtet und das Haus immer weiter mit brauner Brühe flutet. Bezeichnenderweise vergleicht er auch im oben erwähnten Interview die Ankunft der Flüchtlinge mit einem „Wasserrohrbruch“, den es zu stopfen gilt.

Ich bin sicher, dass ihm all diese Worte nicht „entschlüpft“ sind, im Sinne einer „unglücklichen Wortwahl“, die es später professionell zu bedauern gilt. Nein, sie sind wohlgesetzt, mit Bedacht gewählt und voller Kalkül. Sie verdienen Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und natürlich leidenschaftliche Entgegnung, denn sie bilden eine dunkle Beschwörungsformel – demnächst gewiss in allen möglichen Variationen wiederkehrend. Ihr Zweck ist es, die AfD-Klientel auf zu erwartende Tragödien einzustimmen und sie auch künftig und trotz allem auf der Linie der Partei zu halten. Was durch diese Worte beinahe verzweifelt hindurchschimmert, ist die bittere Wahrheit, dass die Ziele der AfD anscheinend nur mitzutragen sind, wenn es gelingt, das eigene Mitgefühl unter Kontrolle halten oder (Prösterchen!) zu betäuben.

Wenn es  – nur mal angenommen – so kommen sollte, dass sich die Lage innerhalb demnächst geschlossener Grenzen entspannt; wenn Pegido und Pegida montagabends zuhause bleiben –  ganz in Familie gemütlich sitzend bei Halma, Erdnussflips und Freiberger Bier, weil sie nun nicht mehr besorgt sein müssen: Worin bitteschön besteht dann die Lebensqualität? Worin genau soll sie bestehen, wenn sie es geschafft haben, sich nicht mehr von Kinderaugen erpressen zu lassen? Was bleibt an Lebensgefühl und Lebensfreude, wenn sie angesichts des Grauens vor der eigenen Haustür Meister der Gewöhnung, Verdrängung und Betäubung werden? Wozu dann noch Kindergeburtstage feiern, Tränen abwischen oder sich auf Weihnachten freuen?

Eventuell spielen, neben allem politischem Kalkül, doch auch biografische Faktoren eine Rolle: Vielleicht musste Gauland (Jahrgang 1941) wie viele andere Angehörige der Kriegs- und Nachkriegsgeneration schon im frühem Alter lernen, Gefühle für sich zu behalten und die allgegenwärtigen Manifestationen des Schreckens nach außen hin gekonnt zu ignorieren? Sucht da eine traurige Überlebensstrategie von gestern ein neues Zuhause in der Gegenwart? Wahrscheinlich ist das Spekulation, wenn nicht sogar unangebrachte Psychologisierung.
Dennoch versuche ich mir in diesen Tagen immer mehr dessen bewusst zu werden, was sich in über siebzig Jahren Frieden an Empathiefähigkeit, gewaltfreiem Zusammenleben mit Kindern, Weltoffenheit usw. entwickelt hat. Es ist ein riesiger Schatz, der da entstanden ist, den es zu hegen, zu nutzen und zu vermitteln gilt. Das in den letzten Monaten unaufhörlich angeprangerte „Gutmenschentum“ will gerade heute mehr denn je zelebriert, gestärkt, verfeinert und weiterentwickelt werden.
Übrigens: Gaulands Tochter, die einen Flüchtling aus Eritrea in ihrem Hause beherbergt, findet die Aussagen ihres Vaters „schwer erträglich“.

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