Wie lassen sich Dialog und Gewaltfreie Kommunikation in Zeiten von „Wutwinter“ umsetzen? Eine Nachlese
Jedes Mal im Spätsommer habe ich mich so an die freundlichen Temperaturen und den unbeschwerten Aufenthalt im Freien gewöhnt, dass es mir scheint, es könnte noch ewig so weitergehen! Erst das tief stehende Licht an den Abenden und die empfindliche Kühle nach Sonnenuntergang lassen diese Illusion platzen wie die grünen Hüllen der Kastanien, wenn sie auf den Asphalt niederprasseln. Leicht fröstelnd ziehe ich mich mit meinen Büchern in das noch sommerwarme Haus zurück – in Gedanken plötzlich beim „heißen Herbst“ und beim „Wutwinter“, welche uns nun angeblich bevorstehen.
Ich habe mir vorgenommen, mal wieder in jenen Büchern* zu schmökern, welche ich seinerzeit mit heißem Herzen las, weil sie mir ganz neue Wege eröffneten: Menschen besser verstehen, mich ihnen ehrlich mitteilen ohne zu verletzen, Konflikte als Chance für die Beziehung begreifen und die Kunst gemeinsam zu denken! Ich wollte erfahren, wie diese Inhalte jetzt wohl auf mich wirken, nachdem in den dazwischen liegenden Jahren so viel geschehen ist: Flüchtlingskrise, Pegida, Brexit, Trump, Corona-Pandemie, Querdenken-Bewegung, fortschreitender Klimawandel, russischer Angriffskrieg … und damit einhergehend die gesellschaftlichen Folgen eines gewaltigen Stroms von Propaganda und gezielt verbreitetem Unsinn. Steven Bannon, seinerzeit Trumps wichtigster Berater, brachte es in einem Interview ziemlich genau auf den Punkt: „The real opposition is the media. And the way to deal with them is to flood the zone with shit.“
So brennt heute in den Trollfabriken spätabends noch das Licht, wird über alle Kanäle hinweg Angst und Wut gesät, werden jene unter Dampf gehalten, die spätestens mit Anfang Corona kopfüber in den Kaninchenbau social-media-generierter Realitätswahrnehmung gefallen sind. Montags erschallen ihre Sprechchöre in den Straßen meiner Stadt. Das ist prinzipiell in Ordnung, weil Ausdruck von Demokratie. Allerdings können es einige von ihnen kaum erwarten, demokratische Institutionen wanken zu sehen, getrieben von ihrer ganz persönlichen Vorstellung von einem Leben in Freiheit: Tür an Tür mit Alice im Wunderland, Jana aus Kassel und diesem halbnackten Capitol-Schamanen.
Wie lassen sich unter der Voraussetzung, dass ich mich von all dem nicht gänzlich abschotte, die Gewaltfreie Kommunikation und die dialogische Haltung umsetzen und leben? Ich erkenne grummelnd an, dass es wohl hilfreicher wäre, möglichst mehr den einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen, statt eine Kategorie Kaninchenbau-bewohnender Hobbits aufzumachen und dann ironisch über diese herzuziehen. Entspricht wohl nicht ganz den Maximen in diesen Büchern und soll erfahrungsgemäß auch nicht so viel bewirken …
Auch erkenne ich grummelnd an, dass an dieser Stelle meine eigene Angst und meine eigene Wut ins Spiel kommen: Liberale Demokratie, Rechtsstaat, freier Diskurs usw. sind mir in jungen Jahren im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR weitgehend unverdient in den Schoß gefallen – gekämpft und den Kopf dafür hingehalten haben andere, weswegen ich das viele Jahre lang wohl zu sehr als Selbstverständlichkeit genommen habe. Heute sehe ich erschreckend klar die Fragilität und die Verwundbarkeit dieser Qualitäten. Ich liebe diese Errungenschaften und mir blutet das Herz, wenn so viele Menschen in ihrer Rage nur noch Verachtung und Misstrauen für sie übrig haben!
Als dieses ganze Corona-Verschwörungsblech aufkam und in meine Gespräche und Email-Austausche schwappte, war ich sehr auf Zuhören und Verstehenwollen gepolt. Heute weiß ich, dass dies auch eine weitgehend unbewusste Strategie der Konfliktvermeidung und des Aufrechterhaltens von Harmonie war. Leider ging es halt auf Kosten rückhaltloser Ehrlichkeit: All die Ungeheuerlichkeiten, denen ich nicht verbal entgegentrat, beschäftigten mich oft noch tagelang in Form von stillem Ärger weiter.
Irgendwann platzte mir dann doch mal der Kragen, was sich irgendwie ganz gut anfühlte. Von da an gelang es mir immer besser, die angemessenen Worte zu finden, anstatt immer nur den empathischen Zuhör-Onkel zu geben.
Mein Lernen besteht nach wie vor darin, Balance zu entwickeln: Impulsiv sein, meine eigenen Werte klarkriegen, mit Leidenschaft dafür einstehen – und dann wieder ganz bewusst innehalten, mich öffnen für die Welt meines Gegenübers, ihn oder sie mit einem milderen Blick betrachten können. Das erinnert an einen Tanz und ist auch gar nicht nicht so weit entfernt von dem was in den Büchern steht. Darüber hinaus kann es von Nutzen sein für all die noch auf uns wartenden Krisen.
*Buchtipps
Martin Buber: Ich und Du
Der deutsch-jüdische Religionswissenschaftler und Philsosoph Martin Buber (1878-1965) geht in diesem Büchlein unter anderem der Frage nach, was die einzigartige Qualität authentischer Begegnungen ausmacht, welches Potenzial für die Lösung dringender gesellschaftlicher Fragen darin liegt und worauf wir auch in scheinbar ganz alltäglichen Situationen achten können, um der Entfaltung dieser Qualität den Boden zu bereiten.
David Bohm: Der Dialog – Das offene Gespräche am Ende der Diskussionen
Der Physiker David Bohm (1917-1992) widmete sich in der letzten Phase seines Lebens und Schaffens der Frage, wie Verständigung in Gruppen gelingen kann und was entstehen kann, wenn Phänomene wie verbaler Schlagabtausch, Monologisieren und Anderen-Leuten-die-Welt-erklären mehr oder weniger entfallen. Er entwickelte ein Set von Kernfähigkeiten, welche, von allen am Dialog Beteiligten immer wieder geübt und vertieft, zu „frischem“ Denken und der Entfaltung kollektiver Intelligenz zugunsten einer bedrohten Welt führen kann.
Martina, Johannes und Tobias Hartkemeyer: Dialogische Intelligenz – Aus dem Käfig des Gedachten in den Kosmos des gemeinsamen Denkens.
Das Buch enthält die wertvolle Essenz vieler Jahre dialogischer Praxis. Es verbindet die Philosophien Bubers und Bohms miteinander und bezieht weitere Ansätze, wie indigene Traditionen oder Konzepte aus der humanistischen Psychologie mit ein – als Wurzeln einer dialogischen Gesprächskultur, welche ganz sicher über das Potenzial verfügt, das Miteinander in unseren Schulen, Unternehmen, Behörden, Politikbetrieben usw. auf ein neues, menschenfreundlicheres und dem Leben dienendes Level zu heben.
Marshall Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens
Mittlerweile ein Klassiker und machtvolle Inspirationsquelle für Friedensarbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen! Ausgehend von einem Vier-Schritte-Modell zur Transformation von Konflikten entwirft Rosenberg ein System von Aufmerksamkeitspunkten, Unterscheidungen und Kommunikationsempfehlungen, welches Menschen (nicht nur) in herausfordernden Situationen dabei hilft, mit ihrer Selbstliebe, ihrem Mitgefühl und der konstruktiven Power ihres Sprechens und Handelns in Verbindung zu bleiben.