Die innere Nachbarschaft

Von André

26 Oktober, 2025

Heute ist der 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit. Was mich an dieses Lied denken lässt – und an jenen ominösen Mann, der darin erwähnt wird. Zumindest hätte ich bis vor kurzem noch schwören können, dass er in Marius Müller-Westernhagens Ohrwurm vorkommt – mit feierlicher Mine, glasigen Augen und schwankendem Gang, mitten unter den Gästen des besungenen Großereignisses!

Als ich aber kürzlich den Songtext googelte, um zu herauszufinden, wie der Name des Mannes genau geschrieben wird, realisierte ich – enttäuscht und um Fassung ringend – dass ich Opfer einer „Verhörung“ geworden bin! Dabei sehe ihn immer noch ganz klar vor mir – hoch gewachsen, Dreitagebart, in einem grün-lila 90er-Jahre-Jogginganzug steckend: Mein Nachbar Faularek.

Stattdessen las ich nun schwarz auf weiß:

Die Kapelle, rumm ta ta
Und der Papst war auch schon da
Und mein Nachbar vorneweg
Freiheit, Freiheit …

Na ja, ehrlich gesagt ist mir im realen Leben noch nie eine Person namens Faularek begegnet. Aber ich ging wohl davon aus, dass es in der Region Rhein/Ruhr, woher der Sänger stammt, ganz sicher Leute dieses Namens geben musste. Denn wo einst Horst Schimanski fluchend und prügelnd für Ordnung sorgte, existierte gewiss immer auch ein Nachbar Faularek in der Nähe!

Aber nein – Faularek gab es seit gut 35 Jahren also nur in meinem Kopf: Wütend schwadroniert er darüber, dass „sogenannte Originaltexte“ völlig überbewertet und nur für woke Erbsenzähler von Bedeutung sind. In all der Zeit hat er ein Eigenleben entwickelt, und er denkt gar nicht daran, das Feld zu räumen.

Mannigfaltig mischt er in meinem Alltag mit – mischt auch meine Vorstellung von einem zielstrebigen, maßvollen und vernünftigem Leben regelmäßig auf: Beim Einkauf landet z.B. das Jever-Sixpack völlig überraschend neben dem Bio-Gemüse im Wagen. Oder ein Abend, gewidmet der Lektüre eines druckfrischen, sehnsüchtig erwarteten Fachbuches, endet am Ende dann doch vor dem Bildschirm bei John Wick und Wackelpudding.

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust … klagte schon Goethe über diese Art innerer Widersacher – nur dass in meiner Brust wohl mehr als zwei Seelen wohnen! Friedemann Schulz von Thun, dessen geniale Kommunikationsmodelle mich seit meinem Pädagogikstudium begleiten, hat mit dem Inneren Team einen Ansatz entwickelt, um diesem Zustand von Zerissenheit auf die Spur zu kommen: Gleichsam wie auf einer Theaterbühne erscheinen die inneren Persönlichkeitsanteile, um bei zu treffenden Entscheidungen oder bei sozialen Interaktionen jeweils ein Wörtchen mitzureden.

  • Damit Nachbar Faularek nicht die Regie übernimmt, wird er wachsam eskortiert von zwei weiteren Figuren: Linkerhand vom Unternehmertyp – einem Neuzugang, der mir ständig beschwörend zuraunt, dass ich mich keinesfalls auf dem bereits Erreichten ausruhen soll – und dass es wichtig sei, permanent, „Prozesse zu bauen“, um den Kleinkram zu minimieren und Zeit für die wirklich einkommensrelevanten Tätigkeiten zu gewinnen.
  • Rechterhand flattert völlig außer Atem die kleine Fleißmeise im gebügelten Hemd: Fleißmeise nimmt z.B., wenn sie morgens halb zehn einen Termin in Magdeburg hat, nicht den Acht-Uhr-Zug von Halle, sondern den um sieben Uhr – sicherheitshalber! Denn zu spät ankommen beim Kunden geht gar nicht.
  • Daneben gibt es noch den Freelancer-Dude: Wenngleich schon etwas in die Jahre gekommen, trägt er gerne Hoody und hängt mit anderen Dudes im Coworking ab. Er nennt das „Netzwerken“ – was ihm immer wieder Ärger mit Unternehmertyp einbringt, der dabei nicht wirklich abrechenbare Ergebnisse erkennen kann.
  • Dann wäre da noch jener seltsame Vogel, der einfach nur Freude daran hat, Texte wie diesen in die Tastatur sickern zu lassen. Wenn er könnte, wie er wollte, würde er wohl ganze trübe Herbsttage damit zubringen …

Da eine Fortsetzung dieser Aufzählung den Rahmen sprengen würde, wende ich mich lieber der Frage zu, wie mit so einer verrückten inneren Besetzung bitteschön ein funktionierender Alltag, respektive ein gelingendes Leben möglich sein soll.

Hier bietet Schulz von Thun das Modell des Wertequadrates an: Betrachtet man bspw. Faularek und Fleißmeise als entgegengesetzte Pole auf einer Skala, so lässt sich jedem dieser Pole auch eine Schwestertugend zuordnen – diese jeweils darüber gestellt ergibt dann das Quadrat:

Demnach besteht Faulareks Schwestertugend in der Selbstfürsorge, während für Fleißmeise nach dieser Lesart so etwas wie Verlässlichkeit und Sorgfalt gilt. Gelingender Alltag bzw. gelingendes Leben ergeben sich laut Schultz von Thun in der Regel aus der Balance bzw. aus einem sich ergänzendem Zusammenspiel zwischen den beiden jeweils entgegengesetzten Polen im oberen Teil des Quadrates.

Kommt es jedoch zu einseitiger Fokussierung auf jeweils eine der beiden Qualitäten, fällt die Tugend (z.B. Verlässlichkeit und Sorgfalt) irgendwann hinunter in die wenig tugendhafte übersteigerte Ausprägung (hier Perfektionismus). Dies passiert recht häufig und Du kennst es sicher aus eigener leidvoller Erfahrung! Die Lösung ist jedoch immer in greifbare Nähe: Ein gewisses Maß an Leidensdruck und Einsicht vorausgesetztliegt sie in einer Aufwärtsbewegung entlang der Diagonale in Richtung Schwestertugend des jeweils entgegensetzten Pols. Der Perfektionist oder die Perfektionistin ist also bspw. gut beraten, mal wieder mit ihren Emotionen in Verbindung zu kommen und sich um jene Bedürfnisse zu kümmern, die beim anstrengenden Ringen um optimale Ergebnisse auf der Strecke geblieben sind.

Interessant für Dialogprozesse ist in diesem Zusammenhang auch folgendes Phänomen: Je mehr sich Menschen in einen Pol hineinsteigern, desto eher sehen sie mit Blick auf den anderen Pol die jeweils übersteigerte Ausprägung – und reagieren entsprechend mit Abwertung oder kämpfen dagegen an. So kam es womöglich auch zur Polarisierung während der Corona-Pandemie: „Team Vorsicht“ sah bei denen, die den Maßnahmen eher kritisch gegenüberstanden, gerne das vermeintlich Unsolidarische und Egoistische – während „Team Freiheit“ den Finger anklagend auf die ihrer Meinung nach höchst unkritische „Systemtreue“ der anderen Seite richtete.

Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, was das angeprangerte Verhalten mit mir zu tun hat – und mit dem, was ich mir möglicherweise selber streng verwehre. Der „Arsch-Engel“, dem ich begegne, weist für gewöhnlich in Richtung der oben erwähnten Lösungsdiagonale.

Mit Blick auf Coaching hat mir das Konzept des inneren Teams geholfen, nicht immer gleich „aufzuspringen“ auf die vom Klienten oder der Klientin zu Beginn formulierte Zielvorstellung. D.h., statt daraus gleich einen sportlichen Fahrplan mit Etappenzielen und Umsetzungsschritten abzuleiten, geht es zunächst darum, die Situation auf der „inneren Bühne“ der Person zu erkunden:

  • Mit welchen inneren Gegenspieler:innen bekommen wir es zu tun, wenn wir den Veränderungsprozess angehen?
  • Was geschieht, wenn wir auch diesen Persönlichkeitsanteilen empathische Aufmerksamkeit schenken – und was brauchen sie, um einer notwendigen Kursänderung ihr OK zu geben?
  • Welche Art von „Deal“ lässt sich zwischen den Protagonist:innen aushandeln, damit sie sich nicht gegenseitig blockieren oder sabotieren?

Mich erinnernd an die Zeit der friedlichen Revolution 1989/90, freunde ich mich immer mehr mit der Idee eines inneren Runden Tisches an, wo sich Faularek, Unternehmertypi & Co. ehrlich, kultiviert und auf Augenhöhe begegnen können.

Schade, dass jene seinerzeit am Runden Tisch praktizierte Dialogkultur in der Politik nicht mutig aufgegriffen wurde. Bleibt uns in diesen Tagen also nichts anderes übrig, als das Fahrrad wieder mal neu erfinden, und Gesprächsformate zu erproben, die sowohl Vielfalt, als auch Zusammenhalt möglich machen.