„Oh nein, jetzt meldet sich auch noch Herr H. zu Wort – natürlich holt er wieder ganz weit aus und will uns wie immer die Welt erklären! Ob es auffällt, wenn ich unter dem Tisch kurz meine Emails checke?“
Dieser Satz könnte aus einem jener inneren Dialoge stammen, die ablaufen, während Teamberatungen, Gesamtkonferenzen, Vorstandssitzungen usw. ihren Lauf nehmen – und uns immer wieder Stunde um Stunde wertvolle Lebenszeit kosten!
Der Physiker und transdisziplinäre Wissenschaftler David Bohm muss seinerzeit auch unter der teilweise miserablen Kommunikation innerhalb des Wissenschaftsbetriebes gelitten haben. Um guter Gesprächskultur und der Entfaltung kollektiver Intelligenz auf die Sprünge zu helfen, verknüpfte er Erkenntnisse aus der Quantenforschung mit seiner Philosophie der „Impliziten Ordnung“:
Materie und Geist sind laut Bohm nicht voneinander getrennt, sondern bilden eine Einheit. Unsere bekannte Welt, die wir mit unabhängigen Objekten, Raum und Zeit wahrnehmen, ist nur die äußere Erscheinungsform dieser Einheit. Darunter gibt es eine tiefere, uns normalerweise verborgene Ordnung, welche die wahre, grundlegende Realität darstellt. Innerhalb dieser Ordnung, so vermutet Bohm, ist das ganze Universum wie in einem Hologramm eingefaltet. Aus ihr entstehen immer wieder neue Formen, die sich verändern und wieder neu bilden.
Ich gebe zu, das war ein ziemlich großer Sprung! Bevor ich jetzt zu sehr in Theorie eintauche, schlage ich lieber den Bogen zurück zu unseren immer wiederkehrenden Nervereien an Konferenz-, Lehrerzimmer- oder Abendbrottischen. Schließlich hat David Bohm, ausgehend von seinen philosophischen Erkenntnissen, auch einen sehr praktischen „Werkzeugkasten“ für Kommunikation in Gruppen entwickelt.
Gesetzt den Fall, ich befinde mich in der oben angedeuteten Situation – und mithilfe einer Eingebung gelingt es mir, Bohms imaginäre „holistische Brille“ aufzusetzen: Ich würde anerkennen, dass sowohl Herrn H.s ausufernde Rede, als auch meine Reaktion darauf (der plötzliche Drang Mails zu checken) zwei Phänomene darstellen, die zunächst erstmal Aufmerksamkeit verdienen – neugierige, entspannte Aufmerksamkeit! Denn nur wenn es gelingt, an einem solchen Punkt zu verlangsamen und eine erkundende, vorübergehend wertfreie Haltung einzunehmen, erschließt sich nach und nach die Ebene unter solchen äußeren Erscheinungsformen.
Bohm nennt das übrigens „Suspendieren“ – ein Wort, welches im Deutschen wohl eher mit unangenehmen Assoziationen verbunden ist. Es meint, dass wir in der Lage sind, einen in uns auftauchenden Impuls (z.B. eine emotionale Reaktion, eine starke Wertung, eine unangenehme Erinnerung usw.) „in der Schwebe zu halten“, statt unseren üblichen, meist unterbewusst gesteuerten Reaktion darauf freien Lauf zu lassen.
Gelänge dies, und könnten wir in einem nächsten Schritt sogar darüber in Dialog treten, würden wir vielleicht auf Herrn H.s innere Anspannung zu sprechen kommen, welche wahrscheinlich aus einer elementaren Erfahrung des Nicht-gehört-werdens resultiert. Vielleicht würden wir gemeinsam darüber nachdenken, wo in Schule, Berufsleben oder Politik heutzutage überhaupt so etwas wie echtes Gehört- und Gesehenwerden stattfindet und was es dort jeweils bräuchte, um diesem wichtigen Bedürfnis Rechnung zu tragen.
Sicher hätten wir aber auch darüber zu reden, woher dieser Impuls des Email-Checkens kommt, dieses frustrierte In-die-Vermeidung-gehen! Wäre es nicht besser, in diesem Moment etwas Mutig-ehrliches rauszuhauen – etwas, das uns wieder in die Verbindung bringt? Was zur Hölle ist irgendwann schiefgelaufen in Familie, Schule oder sonst wo auf meinem Lebensweg, und hindert mich heute so oft daran, selbstbewusst für meine Bedürfnisse einzustehen, in jedem Moment das pralle Leben in mir zu spüren und meine Integrität zu wahren?
Diese Denk- und Dialogschleifen wären natürlich nur zwei von unendlich vielen innerhalb der impliziten Ordnung „eingefalteten“ Möglichkeiten! Auch sind sie hier eher hypothetischer Natur und enspringen meinem kleinen, unruhigen Kopf, während ich hier allein vor mich hin schreibe. „Bohmscher Dialog“ dagegen meint, dass in einem Kreis einander in Aufmerksamkeit und Wahrhaftigkeit zugewandter Personen Gedanken frei fließen können, dabei Gehör und Resonanz finden und von Fall zu Fall auch gemeinsam weitergedacht werden. Dabei üben sich die Teilnehmenden darin, Bewertungen, Imponiergehabe, ungefragte Ratschläge, „Mansplaining“, Harmoniesucht und andere Dialogkiller weitgehend zu vermeiden. Sie praktizieren achtsames Zuhören, Suspendieren und Reden von Herzen – versuchen immer wieder die Balance von Zuhören und Sprechen zu erspüren.
Ziel ist es, möglichst viele der in der Gruppe vorhandenen Gedanken, Erfahrungen, Emotionen, Ideen usw. einzuladen und dadurch zu einem ganzheitlicheren Verständnis zu kommen, Fremdverstehen zu ermöglichen und ganz neue Gedanken, Ideen und Handlungsimpulse aufsteigen zu lassen. Dies geschieht nicht wie in den meisten alltäglichen Gruppengesprächen durch Pro- und Kontra-Diskussionen, Abspulen zurechtgelegter „Textbausteine“ oder rhetorisches Brillieren, sondern durch eine erkundende Haltung allem gegenüber, was geteilt werden möchte, und sei es scheinbar noch so abwegig oder schwer nachvollziehbar.
Für mich verwende ich dafür gerne das Bild eines 1000-Teile-Puzzels, bei dem der Karton mit der Bildvorlage fehlt: Nur durch sorgfältiges Einsammeln, Beisammenhalten und aufmerksames Aneinanderlegen der Teile kommen wir zum „Endbild“ – also bezogen auf den Dialog zu einer überraschenden Erkenntnis, zu einer neuen Ebene von Wahrheit oder zur Entfaltung kollektiver Intelligenz.
In besonders lichten Momenten touchieren wir vielleicht auch mal die von Bohm postulierte implizite Ordnung. Wenn darin eine unendliche Zahl „eingefalteter“ Möglichkeiten existiert, werden doch sicher auch ein paar dabei sein, die unserer Welt an dem Punkt, wo sie sich gerade befindet, mega guttun würden!
Wenn du bis hierhin gelesen hast und Resonanz verspürst – wenn du dich fragst, wie sich diese zwischenmenschlichen Qualitäten in Pädagogik, Unternehmensführung, Supervision etc. kultivieren lassen, lass uns gerne ins Gespräch kommen! Ich bin nun schon seit über 15 Jahren als Dialogprozessbegleiter tätig, verfüge über einen reichen Erfahrungs- und Methodenschatz darin und praktiziere bewährte dialogische Formate:
Teamdialoge (als Variante von Supervision)
Workshops „Einführung in die dialogische Haltung“ und Vertiefungskurse
ALLE WETTER Kreisgespräche® für Schulklassen und Teams sowie Fortbildungen dazu
Offener Dialograum für Pädagog:innen
Dialogische Elternabendreihen nach dem Konzept ELTERN STÄRKEN (Johannes Schopp)
Dialog unter freiem Himmel
Ich sehe darin eine effektive Form, um gute Kommunikation, gleichwürdiges Miteinander und demokratische Führungsqualitäten zu stärken. Darüber hinaus lassen sich mithilfe es Dialogs neue Wege im Umgang mit Konflikten beschreiten. All das dient einer dringend notwendigen Humanisierung von Schulen, Kinderheimen und sozialpädagogischen Einrichtungen, damit Kinder und Jugendliche immer mehr die Möglichkeit bekommen, für sich selbst zu sprechen und ihre Stimme innerhalb der Gemeinschaft zu entwickeln. Die in diesen Tagen so oft beschworene „Demokratiebildung“ sollte sich nicht darauf beschränken, unser politisches System kennenzulernen und den Bundestag zu besuchen.
Dialogische Praxis funktioniert übrigens nicht nur im pädagogischen Feld: Sie bewährt sich zunehmend auch in Unternehmen und Behörden. Meine Kolleg:innen und ich machen seit einiger Zeit ermutigende Erfahrungen damit.
Weiterführendes:
https://lernende-organisationen.ch/dialog/
Buch von David Bohm
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David Bohm: Wikipedia
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