Herbstgefühle

 

Was hat der Herbst mit dem Frühling gemein? Er ist plötzlich da, liegt auf einmal in der Luft und durchweht einen mit der Gewissheit, dass alles im Wandel ist. Dagegen kommen Sommer und Winter doch eher als allmähliche Veränderung oder als Steigerung des bereits Vorhandenen daher.

Auch stellen sich Erinnerungen an vergangene Herbste ein – Erinnerungen, an denen alle Sinne beteiligt sind: Hand in Hand und verliebt, inmitten eines Kerzenteppichs standen meine heutige Frau und ich 1989 bei der Mahnwache für inhaftierte Demonstranten an der halleschen Kirche St. Georgen.
„UND WAS IST MIT DER DEUTSCHEN EINHEIT?“ ergriff ein strubbelhaariges, lederbejacktes Männlein das Wort und überzog die Anwesenden mit einem erregten Wortschwall. Armes, verwirrtes Männlein dachten wir, als wir uns lächelnd ansahen, aufgewühlt von der Ahnung des Bevorstehenden und auch bang ob der obligatorischen Objektive der Obrigkeit, die man hinter den Fenstern des benachbarten Hochhauses vermutete.
Auch dieser Herbst  bringt eine Ahnung mit sich, dass da etwas Tiefgreifendes im Gange ist und dass wenig beim alten bleiben wird. Mit der zehntausendfachen Ankunft so vieler entwurzelter Menschen hier zerbricht wohl die letzte (heimliche) Illusion, dass wir in getrennten Welten leben und dass die Entwicklungen „da unten“ unser Leben „hier oben“ am Ende nicht wirklich gravierend beeinflussen können.
Vielleicht sollte ich mir die Lederjacke anziehen, um Pegida und Pegido aufzulauern:
„UND WAS IST MIT DER EINHEIT DER ERDENBEWOHNER? WAS IST MIT FREIHEIT-GLEICHHEIT-BRÜDERLICHKEIT?“ krakele ich dann, während die beiden händchenhaltend und lächelnd über die Dresdner Kotzbrockenkirmes schlendern.
Nur das mit dem Strubbelhaar könnte etwas schwierig werden.

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