Seit dem Beginn meiner Weiterbildung zum Veto-Konzept nach Maike Plath verwende ich diese quietschgelbe Karte in meinen Seminaren, Supervisionen und ALLE WETTER Kreisgesprächen! Gleich zu Beginn lege ich sie in die Kreismitte und erläutere, was es damit auf sich hat. Dafür braucht es i.d.R. nur zwei bis drei Sätze, weil die Sache geradezu selbsterklärend ist – was oft auch mit einem zufriedenen Nicken oder Lächeln quittiert wird:
Niemand muss hier irgendwas. Punkt
Alles Mitmachen, Mitspielen, Beitragen, Sich-äußern, Sich-einlassen, Sich-zum-Obst-machen darf aus Neugier, Lernlust, Spielfreude oder einem echten Kooperationsimpuls heraus erfolgen! Andernfalls kann jede:r Veto einlegen, anstatt entgegen der eigenen inneren Stimme etwas mitzumachen – sei es aus Anpassungsdruck, Furcht vor Missbilligung oder weil „es sich so gehört“.
Es entsteht ein Raum, in dem jederzeit Veto gegeben werden kann – und in dem Veto bedingungslos akzeptiert wird. So können Menschen in einem geführten Setting wie einem Seminar oder einem Teamcoaching ihre Integrität wahren und werden nicht wider Willen zu Tätern oder Opfern. Nervigen Machtspielchen, entfremdender Unterordnung oder schmerzhaften Grenzüberschreitungen wird der Nährboden entzogen.
Dieses Prinzip entlastet mich als Seminarleiter oder Prozessbegleiter – denn wenn sichergestellt ist, dass jede:r der Teilnehmenden Veto einlegen kann, muss ich mir nicht permanent den Kopf darüber zerbrechen, ob ich sie z.B. gerade über- oder unterfordere. Ich kann unbeschwerter und intuitiver agieren, weil ich einen guten Teil der Führungsverantwortung vertrauensvoll an die Gruppe übergeben habe.
Aber sollte das nicht eigentlich selbstverständlich sein?
Ja, in einer idealen Welt vielleicht! Z.B. legen Kinder und Jugendliche in der Schule ja mehr oder weniger oft Veto ein – mit der Folge, dass sie es (zumindest noch an den meisten Schulen) mit einem beeindruckenden Arsenal von Maßnahmen zu tun bekommen: vom ausgeklügelten Bewertungs- und Punktesystem über Lob, Tadel, sich steigernder Schimpf-Lautstärke und Sanktionen bis hin zum Schulverweis: Machst du Veto, kriegst du Ärger!
Nun haben die meisten heutigen Erwachsenen im Laufe ihres Aufwachsens solche Erfahrungen gemacht. Die Summe all dieser Erfahrungen schlägt sich nieder in einer autoritären Prägung, die bestimmte, mehr oder weniger unbewusste Verhaltensmuster nach sich zieht. Diese finden sich u.a. auf einer Skala zwischen totaler Anpassung und totaler Rebellion wieder.
Nicht, dass Anpassung oder Rebellion und alle Stufen dazwischen per se ungeeignete Strategien wären – das hängt schließlich immer von der Situation ab! Problematisch wird es halt dann, wenn solche Verhaltensmuster in einer Gruppe oder Organisation wichtige Qualitäten blockieren: Ehrlichkeit, authentische Begegnung, klare Kommunikation, Empathie, Kooperation, Konfliktlösung, gemeinsames Erreichen von Zielen, Weiterentwicklung oder einfach nur Lebendigkeit und Spontaneität
Ein konkretes Beispiel? Gerne!
Ich bin durch meine berufliche Tätigkeit vor allem im schulischen Bereich unterwegs – und mir begegnet dort in den letzten Jahren immer öfter eine Haltung, die ich mit dem Begriff „Funktionier- und Überlebensmodus“ beschreiben würde: Zwar gibt es bei den betreffenden Pädagog:innen oft ein Bewusstsein dafür, dass das Bildungssystem mit Blick auf originäre kindliche Bedürfnisse, Kinderrechte, Bildungsgerechtigkeit, Gesundheit der Angestellten usw. aktuell meist nicht liefert. Dennoch wird der „weiße Elefant im Raum“ nicht thematisiert, weil die Aussicht auf (am Ende selbst anzustoßende) Veränderungen nun mal Angst macht – Angst oft in Verbindung mit dem Gefühl von Ohnmacht. Diese Mixtur wiederum fühlt sich oft so schrecklich an, dass dieser Status quo weiter in Kauf genommen wird – bietet er doch immerhin eine Art von Sicherheit und Kontinuität.
Von außen betrachtet erscheint das vielleicht erstmal als ein schwer zu ertragender Zustand voller innerer Konflikte, unterdrückter Wut und trauriger Momente! Dennoch ist er für viele von uns ertragbar, weil uns diese Art des Ertragens aus der Kindheit vertraut ist und weil uns damals angesichts autoritärer Strukturen nichts anderes übrig blieb, als sie „einzuüben“ – Funktionier- und Überlebensmodus halt.
Heute zahlen i.d.R. alle Beteiligten einen hohen Preis dafür. Wenn bspw. immer mehr Lehrkräfte sich nur noch über ihre Rolle als „Lernstoffvermittler:in“ definieren, um sich nicht mit den wirklich brennenden Themen unserer Zeit/unserer Kinder auseinanderzusetzen, werden (bzw. bleiben) unsere Schulen eine Art von Lernfabrik, wo die Erwachsenen in besagtem Modus am Ende nur noch wie Zombies durch die Gänge kamuffeln. Was macht das auf Dauer mit den Kindern und Jugendlichen?
Ich bin weit davon entfernt, das Veto-Prinzip als „elegante Lösung“ anzupreisen.
Meine bisherigen Erfahrungen mit dem Ansatz legen nahe: Wenn wir die Idee dahinter wirklich ernst nehmen, warten einige interessante Herausforderungen und Abenteuer auf uns, z.B.:
- uns auseinandersetzen mit unserer eigenen autoritären Prägung und den daraus erwachsenen heutigen problematischen Verhaltensmustern
- mutig und ver-rückt werden, um uns neue und unerprobte Strategien anzuverwandeln
- mit dem Veto, das uns entgegengeschleudert wird, umgehen können, d.h. in Situationen, wo unsere bisherigen Methoden und Lösungsansätze nicht auf die erhoffte Resonanz stoßen, auf autoritäre oder manipulative Strategien zu verzichten
- uns im Ertragen von Ungewissheit üben und eine positive Vorstellungskraft entwickeln – mit Blick auf nicht vorhersagbare Entwicklungen in Gruppensituationen oder pädagogischen Settings
- während all das passiert, mit den eigenen Gefühlen sein und prozessieren können (und ggf. auch mit denen der anderen Beteiligten)
Puh, klingt mal eben nicht so locker-easy wie am Anfang des Artikels beschrieben, oder?
Aber ich glaube, es lohnt sich, wenn wir mal durch den ganzen Kakao hindurchgehen und alle möglichen Schablonen und Glaubenssätze, die uns im „Land des inneren Gehorsams“ (Maike Plath) gefangenhalten, loslassen: Wir können dann ein Maß an Selbstwirksamkeit, Gelassenheit und vielleicht sogar Weisheit entwickeln, das uns dabei hilft, endlich besser mit Vielfalt klarzukommen – und die nötige Superpower für die solidarische Bewältigung künftiger Krisen zu erzeugen.
Übrigens ist die gelbe Veto-Karte nur einer von insgesamt sieben demokratischen Führungsjokern. Wobei Führung hier nicht nur im Sinne von Teamleitung oder Management gemeint ist, sondern auch von pädagogischem Handeln oder von Selbstführung. Aber darauf werde ich in meinen kommenden Artikeln gerne nochmal genauer eingehen. Im Moment habe ich noch genug damit zu tun, zu verstehen, was Veto ist und was es für mich und mein Sein und Tun bedeutet.
Bleib bis dahin neugierig und leg in deinem Alltag einfach öfter mal Veto ein!
Die sieben demokratischen Führungsjoker
PS: Das Veto-Institut gibt monatlich Info-Zooms. Alle Informationen findest du auf den Seiten des Veto-Institutes.